Bist du bereit hinzuschauen?

Es ist jedes Mal dasselbe. Ich fahre vorbei und frage mich: Soll ich schauen oder nicht? Nur selten fahre ich dran vorbei und merke danach, dass ich nicht dran gedacht habe.

Es ist nicht viel zu sehen. Da ist ein Hof. Es hat einen Kuhstall. Man sieht den riesigen Misthaufen und das Förderband, das den Mist transportiert. Durch die Stallöffung kann ich Kuhkörper sehen. Die Kühe sieht man nicht wirklich gut. Sie sind immer im Stall. Seit Wochen. Seit Monaten. Wie lange eigentlich schon? Ich frage mich, ob ich sie schon mal draussen auf der Wiese gesehen habe. Da stehen ab und zu Rinder und Kälber, aber Kühe? Ich kann mich wirklich nicht erinnern. Das Schweizer Tierschutzgesetz erlaubt das Anbinden von Kühen im Stall an 270 Tagen im Jahr. An 90 Tagen müssen die Kühe raus gelassen werden. Wenn es ein Freilaufstall ist, müssen sie gar nie raus auf die Weide, ins Gras.

Wegschauen ist so einfach. Hinschauen ist so schwer. Aber hinschauen und so tun als ob man nichts gesehen hat, ist unmöglich.

Heute hab ich geschaut. Im Vorbeifahren, eine halbe Sekunde. Das war ausreichend. Ich sah ein ganz kleines Kälbchen. Es war nicht im Stall bei der Mutter, um die Milch zu trinken, die diese nun während etwa 9 Monaten für ihr Kind gibt. Es war bereits von seiner Mutter getrennt, in Einzelhaltung im Iglu. Das Kälbchen war braun. Es war so klein. Ich vermute ein paar Tage alt.  Ich wusste, es ist ein Stierkalb. Man hatte es der Mutter weggenommen so wie immer, wenn man mit Tieren Geld verdienen will. Das Kälbchen wird niemals Milch geben. Für Fleisch ist es die falsche Rasse. Also wird es bald sterben müssen, sonst kostet es ja nur Geld.

Ich habe doch tatsächlich bis heute ein bisschen naiv geglaubt, dass das in meiner nächsten Umgebung, in dieser idyllischen Natur, nicht passiert. Oder dass die betreffenden Landwirte es besser machen.

Heute ist wieder mal eine kleine Welt in mir zusammen gebrochen. Ich frage mich, ob ich wirklich die Einzige bin in diesem Dorf, die sieht, was da passiert. Oder ob ich nur die Einzige bin, der es nicht egal ist. Aber wenn auch nicht – was sollte ich denn tun? Es ist in unserem ach so strengen Tierschutzgesetz erlaubt, der Mutter das Kalb nach der Geburt wegzunehmen und nach 21 Tagen zu schlachten. Ein toller Fortschritt: bis vor kurzem durften Kälber schon mit 7 Tagen getötet werden. Wem nützt das wohl?

Etwas später in meinem Garten am Arbeiten: Ich höre eine Kuh brüllen. Immer wieder. Der Hof liegt 400 Meter Luftlinie von mir entfernt. Ich stelle mir vor, wie das Kalb eingeladen wird. Die Mutter riecht es, hört es, sieht es vielleicht sogar.

Auf dem Hof sehe ich manchmal Kinder spielen. Ich frage mich, wie man Kindern erklärt, dass es normal ist, einer Mutter ihr Baby wegzunehmen.

Morgen werde ich mich wieder fragen: Soll ich schauen oder nicht? Wird das Kälbchen noch da sein? Aber eigentlich weiss ich es schon.

Das Unrecht des Mächtigen.

Das Unrecht des Profits.

Und das Unrecht einer pervertierten Genusssucht.

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Bist du ein Kalb? Ist deine Mutter eine Kuh?

 

 

 

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